Geändert am: 21.02.2012
Bewegte Zeiten

 

 Mein drittes Schuljahr begann fast mit einer Revolution. Ich drückte noch immer die erste Bank und hatte von hier aus schon Mühe, zu lesen, was man auf der Tafel schrieb. Der neue Lehrer wetterte „du brauchst eine Brille“. Er gab mir für Vater einen Brief mit. Ich verging fast vor Angst. Seine Vorgänger hatten mir schon soviel auf die Finger geschlagen, bis ich endlich mit der rechten Hand schreiben lernte. Vorher war mir schon zu Hause schmerzlich klar geworden, dass man nur mit der  „schönen Hand“ essen darf. „Sag dem Herrn Lehrer, ich werde mit ihm reden“ sagte er, nachdem er stirnrunzelnd den Brief gelesen hatte. Mich tröstete er: „Heidi, eine Brille kostet zu viel Geld. Schau, die meiste Arbeit ist eh am Boden, dös siehst du leicht“. Es machte mir nichts aus, weiter die Eselsbank zu drücken, denn meine weit größere Sorge war die letzte Vier in Singen. Dies würde heuer nicht anders sein, weil ich immer noch alle Töne durcheinander brachte. „Das ist nicht schlimm“, meinte der neue Lehrer und lernte mir „Noten schreiben''. Leider blieb uns der „Gute“ nicht lange erhalten. Er kam öfters angeheitert zur Schule. So war er auch nicht ganz sattelfest, als unerwartet der Herr Schulinspektor auftauchte. Zwar beantworteten wir alle Fragen des Prüfers richtig, konnten unseren Lehrer auch damit nicht halten. Von den vielen Lehrern meiner acht Schuljahre blieb nur er in meiner Erinnerung.

 „Ös habt's a Schwesterl kriagt“, empfing uns eines Tages Tante Ida - das war die Berwanger Hebamme - als wir von der Schule kamen. Sie führte uns in den Gaden. Sprachlos starrten wir drei Mädchen mit großen Augen auf das winzige Bündel mit dem schrumpeligen roten Köpflein bei Mutter im Bett. Friedl und Max räumten wortlos das Feld. Wir drei wurden mit Mutters Mahnung „tut's brav zusammenhelfen“ in die Wirklichkeit zurück gerufen. Tante Ida blieb ein paar Tage bei uns. Sie wurde Taufpatin, das Kleine bekam ihren Namen. Für uns Kinder hatte alles Rätselraten und das „Warum und Woher“ ein Ende, als der Herr Pfarrer sagte, „das Kind ist ein Geschenk Gottes“.

Indes dürften die Sorgen der Eltern so erdrückend geworden sein, dass sie schließlich dem nachhaltigen Drängen einer Tante nachgaben und Poldi in deren Familie kam. Obwohl wir den Kontakt zu ihr nie abbrachen, verzieh sie den armen Eltern nie, dass sie „verschenkt“ wurde. Friedl musste über die Sommerferien als Hüterbub zu einem Bauern im Schwabenland. Max und ich schufteten an Vaters Seite in Stall und Feld. Die siebenjährige Tilli wurde Mutters rechte Hand im Haus.

Während der Monate Juli /August siedelte das ganze Dörflein auf die Alm. Oberhalb der Baumgrenze auf einem Hochplateau gehörte uns eine der neun Blockhütten. In mühevoller Arbeit mähten wir die steilen Hänge und deponierten das Heu in tiefer gelegenen Stadel. Abends saßen unsere Väter oftmals noch eine Weile auf dem Hüttnbankl. Sie redeten von den Aufständen und Revolution in Wien; sie malten eine düstere Zukunft. Tief im Heu der Pritsche vergraben träumte ich von Kanonendonner und blitzenden Gewehrsalven über unseren Köpfen. „Heut' Nacht hat's a schwer's G'witter g'höt“, sagte Vater am nächsten Morgen.

Wir bahnten uns durch meterhohe Schneewehen den Weg zur Schule. Unsere Väter hielten oft Tag und Nacht breite Gräben hinter einigen, eng an den Hängen klebenden Häusern aufrecht, um die Hausmauern vor den ständig nachrückenden Schneemassen zu schützen.

Indes wurden wir in der Schule nun mit der Politik vertraut gemacht. Das erste patriotische Gefühl erwachte in mir, als der Herr Bundeskanzler Dr. Dollfuß nach Bichlbach kam. Neben Berwanger und Bichlbacher Schulklassen säumten wir den Straßenrand. Das Adalbertle durfte die Fahne halten. Voller Stolz stand der O-beinige Knirps in der ersten Reihe und grinste, dass der Mund fast bis zu seinen abstehenden Ohren reichte. Die Bürgermeister, die Geistlichen Herren, die Lehrer und die Gendarmen säumten erwartungsvoll den roten Teppich vor dem Rednerpult. Als dann unter den Klängen der Musikkapelle der Herr Bundeskanzler in seiner wunderschönen Uniform mit blitzenden Orden an uns vorüberschritt, blieb er kurz stehen und reichte unserem Adalbertle die Hand.

Das Gesicht unseres kleinen Fahnenträgers erstarrte; aus seinen riesengroßen Augen kullerten Tränen über die roten Backen. Der hohe Herr war längst vorbei. Unser kleiner Fahnenträger taute erst wieder richtig auf, als wir in „Hirschenwirt's“ Veranda um die langen Tischreihen saßen, und als er als „Held des Tages“ eine doppelte Portion Würstl essen durfte.

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