Geändert am: 21.02.2012
Tränen im Schnee

Nach dreistündigem Anstieg stehe ich auf dem Gipfel des Mähberges. Am Kreuz lehnend, lasse ich meinen Blick den steilen Grashang hinunterwandern. Meine Heimat im Schutze des alten Bannwaldes. Die Erinnerung an eine Winternacht in meiner Jugend jagt eine heiße Welle in mir hoch.

Winter 1943, ich war gerade zwanzig. Unserm Neunhäuserdörflein hatte der Krieg schon übel mitgespielt. Drei Jungmänner in meinem Alter gefallen, einer vermisst.

Mein Vater und zwei unserer Nachbarn waren nach sorgsamer Beobachtung der Schneelage übereingekommen, das Heu von den Bergstadeln zu holen. Es war jedes Jahr dieselbe nicht ungefährliche Winterarbeit, da man ohne Schneebahn keine Möglichkeit hatte, die Heuernte zu Tal zu befördern. Am Vortag schaufelten Ludwig und Johann, unsere Nachbarn, mit Vater und meinem Bruder Friedl einen Schlittenweg bis zum Anstieg. Mit je einem Bündel Heuseilen über den Schultern gingen wir um drei Uhr früh los. Die Schlitten deponierten wir unter den Bäumen und stapften am Waldrand durch den oft meterhohen Schnee zum Almboden.

In majestätischer Einsamkeit, von Mondlicht übergossen, ragte die Bergwiese in den nachtschwarzen Himmel. Teilweise bis zu den Schultern im Schnee versinkend arbeitete sich jeder Bauer zu seinem Heustadel hoch. Der Bergwind hatte schon Vorarbeit geleistet. Bald hatten wir den Einstieg zur Heuhütte frei. Fladen um Fladen des duftenden, in der Mitte noch etwas warmen Heu langte ich aus dem Heustock. Friedl und Vater schnürten es zu Ballen. Um uns erwachte langsam die Welt. Wie ein Kranz von Rosen erglühten die Bergzacken am Himmelsrand. Im blauen Dämmerlicht lag unter uns die Alm. Die kleinen weißen Hügel ließen die Hütten erahnen, die zur Sommerszeit unser Aufenthalt waren.
„Heidi, hör' auf zu träumen", mahnte Vater. „Unsere Nachbarn drüben sind schon fertig". Bald hatten wir es auch geschafft. Friedl fuhr als erster mit sechs aneinander gehängten Ballen ab, eine Spur durch das unberührte Weiß ziehend. Ich wartete, bis auch Vater unten war, legte mich bäuchlings auf meine Fuhre und sauste hinunter auf den von Sonnenlicht überfluteten Almboden. Unsere Nachbarn waren schon da. Anni, Ludwigs Tochter, (ihre beiden Brüder waren auch irgendwo an der russischen Front) und ich kramten mit klammen Fingern die Teeflaschen aus dem Rücksack. An die Heuballen gelehnt ließen wir das noch leidlich warme Getränk, das von der Mutter vorsorglich in Zeitung gewickelt und in eine Wollsocke gesteckt wurde, reihum gehen. Johann kramte sein Priemchen aus der Joppentasche. Vater und Ludwig steckten sich die Pfeife an. Diese kleine Rast vor der Talfahrt hatten wir verdient und genossen sie. Friedl und Anni standen etwas abseits. Die beiden hatten sich wohl noch viel zu sagen, ehe er wieder an die Eismeerfront musste.

Da passierte es.

Urplötzlich hüllte uns eine Schneewolke ein. Ein orkanartiges Getöse erfüllte den Almkessel. Dann atemlose Stille.

Uns hatte es förmlich in die Heuballen gedrückt. Gegenseitig befreiten wir uns aus der weißen Wolke, die uns gestreift hatte. Fassungslos schlug jeder ein Kreuz.
Die abgegangene Staublawine hatte in den eben noch weiß aufragenden Berg eine riesige graubraune Wunde gerissen. Von unseren Heustadeln war nichts mehr zu sehen.
Wir kannten die Lawine und hofften, dass sie schon, wie so oft, viele Meter unterhalb unseres Dorfes vorbeigegangen war.
Was für eine Angst mussten jedoch unsere Leute daheim haben. In fieberhafter Sorge um unsre Lieben türmten  wir schnell die Heuballen zu einer Pyramide und hasteten stolpernd den Lawinenkegel hinunter. Von unseren Schlitten war nichts mehr zu sehen. Unsere Häuser standen ohne Schaden. Unsere Väter konnten sich jedoch nicht erinnern, dass die „Lahn“ so nahe an den Häusern vorbei gegangen war und das Tal bis zur gegenüberliegenden Bergseite so hoch aufgefüllt hatte. In der Tat war die Lawine so hoch, dass wir den darauf folgenden Sommer ein gutes Stück unter der Lawine, dem ausgefressenem Bachbett entlang, auf die Alm gingen.

Mutter saß tränenüberströmt auf der Ofenbank. Tilli, Poldi und Ida, meine kleineren Schwestern, klammerten sich zu Tode erschreckt an sie. Tonele, mein sechzehnjähriger Bruder, starrte mit großen Augen auf den riesigen Schneeberg unweit unseres Stubenfensters, als wir zur Tür herein torkelten . „Gott sei Dank“, brachte Mutter nur hervor. Bei meiner abendlichen Stallarbeit kam Friedl zu mir. Es war sein letzter Tag Heimaturlaub. „Heidi, fahr morgen mit mir nach München. Ich mag nicht mehr allein von daheim fort“. Weinte mein Bruder? „Die Petroleumlampe raucht heut so viel“, sagte er und wischte sich über die Augen.

Anni, Friedl und ich nahmen den Frühzug von Bichlbach nach Garmisch und stiegen um nach München. Mit Mühe und Not ergatterte er im überfüllten Fronturlauberzug, der die Landser wieder nach Norden brachte, einen Platz. Anni und ich zwängten den schweren Rucksack durchs Abteilfenster. Tausend Hände schienen den Zug aufzuhalten, die sich zwischen den Fenstern ineinander krallten. Doch ein durchdringender Pfiff, gleich einem markerschütternden Schrei ertönte und die Waggons setzten sich in Bewegung. Die Hände blieben in der Luft wie wehende Fahnen. Sie sackten erst herunter, als der letzte Waggon im Dunst unterging.