Geändert am: 21.02.2012
Meine Erinnerung an das Schwabenland

Mein Bruder Gottfried kam von seinem zweiten Schwabenlandsommer zurück. Er ließ seinen Rucksack auf den Boden fallen, mit den Worten: “Wenn ich noch einmal ins Schwabenland muss, springe ich vom Kirchturm hinunter!”.

Der Herbst war wieder die Zeit der Viehmärkte. Aus den Dörfern und Weilern des Hochtales, aus dem Berwanger Tal und seinen Seitentälern trieb man die JuReuttengkühe auf den Reuttener Markt.

Wir waren eine achtköpfige Familie und hatten 12 Stück Vieh im Stall.  Unsere Lebensgrundlage war der jährliche Erlös von drei tragenden Kühen, die wir auf dem Markt verkaufen mussten. Die Bauern aus dem Schwabenland dominierten das Marktgeschehen. Es wurde um jeden Schilling gefeilscht. Ja, es konnte Stunde um Stunde dauern, bis ein Kauf per Handschlag besiegelt wurde. Wir hatten nach Vaters Meinung einen guten Tag.

Einem Bauern aus Weißensee gefiel eines unserer Rindviecher ausnehmend gut und - mit einigen Seitenblicken auf mich - scheinbar auch die “Dirn”, die er notwendig bräuchte. Melken müsste ich können, ebenso überall kräftig mit anpacken. Meine stämmige Statur sowie meine schwieligen Hände waren ihm anscheinend Bestätigung genug, um mit meinem Vater einen zweiten Handschlag zu tauschen. Ich wurde nicht gefragt, ich hätte mich als eben fünfzehn-Jährige nicht nein sagen getraut.

Der Bauer war meinem Vater noch behilflich, die restlichen beiden Jungkühe gut an den Mann zu bringen. Zum Abschluss bekam ich beim Hirschenwirt noch ein Paar Würstl mit einem Kracherl.

Mein Bruder war gerettet! Er konnte daheim bleiben. Mutter nähte mir ein Kleid und eine Schürze. Einen Hut bekam ich von Tante Martina. Ihrer Meinung nach gehe ein Mädchen nicht unbehutet in die Fremde. So ausgerüstet mit einem Rucksack auf dem Buckel fuhr Mutter mit mir einige Wochen später mit dem Zug von Bichlbach über Reutte nach Vils. Von dort ging es zu Fuß über den Berg zum Alatsee. Ein Waldpfad führte hinunter zum Weißensee. Von dort holte uns der Bauer mit seinem Hausboot ab.

Über dem Dorf jenseits des Sees standen auf einem Hügel ein paar stattliche Bauernhöfe.
Auf die Frage meiner Mutter nach dem einen geschmückten Haus erklärte er, dass es das seine sei und sein Bruder gerade Primiz gefeiert habe. Ich bekam schon heimlich Angst vor der Begegnung mit Herrn Hochwürden.
Schon  in der Schule hatte ich am liebsten einen großen Bogen um den Herrn Pfarrer  gemacht.
Meine Angst war jedoch unbegründet, Hochwürden beachtete mich gar nicht.

Der Bauer zeigte mir seinen riesigen Stall mit mindestens vierzig Rindern, dazu noch den Pferdestall mit fünf Pferden und einigen Fohlen. Die Pferde jagten mir am Anfang immer einen heftigen Schrecken ein, doch das legte sich mit der Zeit Anschließend führte mich die Bäuerin durch das ganze Haus, vom Keller bis zum Dachboden. Ich bekam mein Zimmerchen neben dem der Bäuerin.

Anfangs kam ich nur für die groben Arbeiten in Betracht: den Boden schrubben, die Schuhe putzen, das Stallgewand jede Woche im großen Holzzuber mit Bürste und Waschrumpel sauber machen. Überdies jeden Morgen den Hang hinunter laufen, der Pfarrhäuserin die Milch bringen, die Kirche aufsperren und betläuten - mein Bauer war auch Mesner. Am Abend musste ich erneut hinunter zur Kirche, um die Glocken zu läuten und die Turmuhr aufzuziehen. Der düstere Kirchturm und die großen Zahnräder der Uhr trieben mir jedes mal den Angstschweiß aus allen Poren.
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Meine Bauersleute waren streng gläubig: ein Sohn Pfarrer, der Zweite Missionsbruder in Afrika, die einzige Tochter in einem Karmeliterkloster. Natürlich war für mich die Sonntagsmesse auch Pflicht, doch spätestens bei der Predigt schlief ich jedes mal in der Kirchenbank ein. Dafür bekam ich dann zu Hause von der Bäuerin eine Strafpredigt serviert.
In meiner Not vertraute ich mich der Häuserin an, die mir versprach, mit Hochwürden zu sprechen. Sie hielt auch Wort. Von nun an bekam ich keine Schelte mehr. Die Bäuerin ließ mir sogar bei der Störschneiderin, die ab und zu ins Haus kam, ein Sonntagshäs machen. Von der Pfarrhäuserin bekam ich einen neuen Hut und die ersten Halbschuhe meines Lebens. So passte ich besser zu den fesch gewandeten, reichen Bauernstöchtern in die Kirchenbank.
In Wirklichkeit war ich der Knecht auf dem Hof und hatte bald alles im Griff: ich habe meine zehn Kühe gemolken, mit dem Pferdegespann die Milch in die Sennerei gefahren, die Pferde gestriegelt, dem Bauern geholfen, die Äcker zu pflügen, zur Erntezeit dutzende Heufuder aufgeschichtet. Schwaben-4


Im Sommer kamen immer Erntehelfer aus der Füssener Kaserne.  Mein Bauer verstand es, aus mir einen tüchtigen Helfer zu machen. “Wenn ich einmal heirate”, sagte er des Öfteren, “bleibst du bei mir als Knecht”. Für mich das größte Lob.

Er war auch Totengräber in der Gemeinde und ich half ihm etliche Gräber auszuheben. Als  ich einmal den Dachboden aufräumen musste, fiel mir ein Däniken-Buch in die Hände. Ich nahm es mit in meine Kammer und wenn ich auch jedes mal nach ein paar Seiten einschlief, so war ich doch dermaßen hingerissen, dass ich einmal Archäologin werden wollte. Die Totenköpfe, die wir ausgruben, nahm ich liebevoll in die Hände und legte sie wieder sorgsam in die Grube. Mein Bauer war auch Bienenzüchter und Obmann dieses Vereins. So war ich jeden Sonntag im Bienenhaus. Ich tat es gerne und es machte mir nichts aus, wenn sich die anderen jungen Leute im Weißensee vergnügten.

Schwaben-1Einmal durfte ich auch bei einem Bootsausflug mitfahren, als uns die junge Bäuerin besuchte, die einmal seine Frau werden sollte.

So ging Winter und Sommer dahin. Voller Stolz schickte ich meinen Eltern meinen Lohn nach Hause. Mutter besuchte mich einmal mit meinen beiden jüngeren Schwestern und dem jüngsten Bruder. Sie blieben zwei Tage. Auch die Störschneiderin war gerade wieder im Haus und nähte meinen beiden Schwestern neue Kleidchen. Den Stoff nahm sie aus der Wäschekammer, wo mehrere Ballen in einer Stellage lagen. Doch alle waren sie durchlöchert. Die Bäuerin getraute ich mich nicht zu fragen, was da wohl passiert sei. Und die Störschneiderin faselte etwas von einem Unfall und riet mir, nicht so neugierig zu sein. Viele, viele Jahre später las ich in einer Zeitschrift über die Überfälle auf jüdische Geschäfte in der Reichskristallnacht. Diese löchrigen Stoffballen dürften damit etwas zu tun gehabt haSchwaben-6ben.

Im zweiten Sommer kam der jüngste Bruder meines Bauern nach Hause. Er hatte eine Landwirtschaftsschule besucht und übernahm einen Großteil meiner Aufgaben, so dass ich von nun an mehr im Haushalt arbeiten musste.
Die Bäuerin war Witwe. Sie führte ein rigoroses Regiment und nahm mich gehörig in die Mangel. Die zukünftige Schwiegertochter war nun öfter im Haus und die beiden Frauen verstanden sich gut. Lob bekam ich keines, dafür manch netten Blick und nette Worte vom Bruder des Bauern. Ich hatte keine Ahnung, mir gefiel es einfach, wenn er ein Lied sang oder jodelte, was er ausnehmend gut konnte. Die beiden Hausdamen waren da schon hellhöriger und hatten Argusaugen auf ihren Victor, doch arbeiteten wir alle Hand in Hand. Mir fiel alles viel leichter, das Leben war viel schöner geworden.

Dann kam der Krieg.

Beide Männer mussten einrücken. Der Bauer Philipp kam nach zwei Wochen wieder heim, freigestellt wegen der großen Landwirtschaft. Vom Krieg bekamen wir in unserem Dorf wenig mit. Ich weiß nur noch, dass wir nach dem erfolgreichen Polenfeldzug eine Stunde die Glocken läuten mussten. Unverständlich für uns damals, heute, nach über sechzig Jahren Kriegsende, unglaubwürdig. 1940 bekam ich die Einberufung zum Reichsarbeitsdienst. Die Musterung war ein Horror für mich: nackt vor dem Militärarzt. Er muss meinem hochroten Kopf die Unschuld vom Lande angesehen haben. Jedenfalls drückte er, nach einem leichten Klaps auf meinen Hintern, den Stempel “tauglich” in sein Buch.

Meine Bäuerin schickte mich einige Wochen vor Beginn des Arbeitsdienstes für acht Tage in ein Kloster auf Exerzizien um meinen Glauben zu stärken.

Sechzig Mädchen waren wir im Arbeitslager Kössnach bei Straubing. Sie kamen aus München, Regensburg, Augsburg und ein paar aus Dresden. Ich war die einzige Tirolerin - auch die einzige überzeugte Katholikin. In Uniform ging ich sonntags zur Messe und Kommunion, was mir nach der zweiten Woche fast zum Verhängnis wurde. Unsere Gruppenleiterin drohte mir mit Dachau und ich wurde zur Chefin des Lagers gebracht. Schwaben-5


Diesen wunderbaren Menschen werde ich Zeit meines Lebens nicht vergessen. Sie munterte mich auf, von meinem Leben zu erzählen. Ich hatte so ein spontanes Vertrauen zu diesem ganz fremden Menschen. Sie holte förmlich alles aus mir heraus und klärte mich liebevoll auf und gab mir in diesem halben Jahr “R.A.D” manchen guten Ratschlag, so dass ich mit meinen Arbeitskollegen immer mehr mithalten konnte. Auch stellte sie mir frei, sonntags in die Kirche zu gehen  - das allerdings nicht in Uniform. Ich meldete mich auch freiwillig, Schwaben-9über Weihnachten im Lager zu bleiben. Es waren die schönsten Weihnachten meiner Jugendzeit, wenn wir auch an Stelle von “Ihr Kinderlein kommet ...” - “Vor der Kaserne, vor dem großen Tor ...”  und anstatt “Stille Nacht ...”- “Hohe Nacht der klaren Sterne ...” sangen.

,Unser Tagesablauf: Appell am Morgen, die Fahne aufziehen, ein Lied dazu singen. Nachrichten über die Kriegsereignisse und Einteilung zur Arbeit im Lager und auf den umliegenden Bauernhöfen, deren Männer im Krieg waren. Während die meisten meiner Kameradinnen das Ende der Tage im Lager herbeisehnten, hätte ich mir noch viele dazu gewünscht.

Nach einem kurzen Heimaturlaub musste ich wieder nach Weißensee, obwohl meine Eltern es gerne gesehen hätten, wenn ich daheim geblieben wäre, da mein Bruder Gottfried schon an der Front war. Doch ich konnte es mit meinem Schwaben-8Gewissen nicht vereinbaren, meine Bauern in Weißensee bei der Sommerarbeit im Stich zu lassen.
Eine Frau Professor aus einer deutschen Großstadt, deren Mann im Krieg war, wohnte nun auch hier. Ich musste meine Kammer abgeben und schlief bei der Bäuerin. Mit Victor, der im Frankreichfeldzug war, hatte ich während meiner R.A.D.-Zeit Briefkontakt.
Als ein Feldpostbrief nach Weißensee kam unterschlug ihn anscheinend die Bäuerin. Zufällig fand ich ihn auf dem Küchenkasten.
Dank der Aufklärungsarbeit meiner R.A.D.-Führerin erwachte eine Spur Selbstbewusstsein und ich stellte sie zur Rede. Die Antwort lautete so: “Du Trollerin bist zwar eine gute Arbeitskraft, aber Du hast nichts und kommst aus dem Nichts. Für meinen Buben such ich die Frau, hab’s ihm auch geschrieben.” Der Briefkontakt blieb aus.

Im Sommer brachten wir die Ernte miteinander ein. Sie stellten ein Polenmädchen und einen Kriegsgefangenen aus Serbien ein.

Im Spätherbst 1937 war ich gekommen, im Spätherbst 1942 kam ich wieder nach Hause.
Ein Jahr später kam wieder ein Feldpostbrief von Victor. Daraus wurde ein freundschaftlicher Gedankenaustausch. 1944 schrieb er mir, dass sein Bruder erkrankt sei. Kurze Zeit später starb dieser im Alter von 33 Jahren an Drüsenkrebs. Victor wurde vom Militär freigestellt. Ein gutes Jahr später bat er mich schriftlich um eine Unterredung. Wir trafen uns in Ehrwald. Er schlug einen Ausflug auf die Zugspitze vor. Auf Deutschlands höchstem Berg machte er mir einen Heiratsantrag. Er war jetzt Bauer auf dem Hof und wollte mich gern immer bei sich haben. Ich fiel buchstäblich aus allen Wolken. “Victor, wie stellst du dir das vor? Deine Mutter würde mich nie als Schwiegertochter haben wollen!” “Ja musst halt am Anfang klein beigeben. Mit der Zeit wird sie sich daran gewöhnen”. Auf einmal hatte ich furchtbare Angst. Mit tränenüberströmtem Gesicht sagte ich einfach nein. Schweigend und traurig fuhren wir den Berg hinunter. Keiner konnte dem anderen beim Abschied in Ehrwald recht in die Augen schauen.
Wieder einmal kehrte ich in mein stilles Bergtal zurück. Bei uns daheim kannte man einen alten Spruch: “Was dich nicht umbringt, macht dich nur stärker.” Das hat sich bei mir im Laufe der nächsten Jahre im wahrsten Sinne des Wortes bewahrheitet. Das ist jedoch eine andere Geschichte. 1949 heiratete ich und gründete mit Hugo in Tarrenz eine Familie.
Viele Jahre vergingen, da kam von Victor ein Brief. Wie es mir gehe, wollte er wissen. Er sei verheiratet und würde sich freuen, mich einmal zu sehen. Mein Mann und ich machten einen Motorradausflug nach Weißensee. Victor und seine Frau, eine Bauerntochter aus der Nachbarschaft, an die ich mich von früher noch erinnern konnte, begrüßten und bewirteten uns. Sie hatten zwei Söhne und für beide auf einem seiner großen Felder zwei schöne Häuser hingebaut. “Wir sind eine glückliche Familie” sagte er mir leise beim Abschied.

Jahrzehnte gingen ins Land. Ich war sechzig und stellte einen Rentenantrag. Für die vier Jahre in Deutschland brauchte ich Belege. Wohl hatten wir mit der Schwabenfamilie Briefkontakt, doch dieser war irgendwann erloschen. Ich versuchte es trotzdem und schrieb nach Weißensee. Kurze Zeit kam ein Brief von Victor.

“Liebe Heidi, ich bin nach Füssen ins Archiv gefahren und habe deine Daten herausgesucht, die ich dir hiermit schicke. Ich habe es gerne für dich getan. Ich habe dich nie vergessen.”