Geändert am: 21.02.2012
Gewissensbisse

 

Ich hatte gestohlen und fand nicht den Weg, der mir Vergebung verheißen hätte. Es war vor Schulbeginn. Ich durfte mit Mutter zur Tante Luise fahren. Im neuen Dirndlkleid, die Haare mit einer großen Schleife zum Rossschwanz gebunden, schaute ich die längste Zeit in den Brunnentrog neben dem Haus. "Jetzt komm schon", rief meine Mutter. Mit einem letzten Blick auf mein Spiegelbild lief ich der Vorauseilenden nach. Mutter war auch schön mit ihrem dunklen bodenlangen Kleid und dem Hut, um den ein besticktes Band geschlungen war. Meine Schuhe hatte Friedl einen Tag zuvor vom Schuster geholt, mit rundum glänzenden Nägeln und einem schwarzen Lederfleck um die Spitze. Andauernd stieß ich die Steine auf dem Weg vor mir her. "Hör auf damit", schimpfte die "Gute", "wirst bald wieder die Nägel verlieren und die Spitzen durchgestoßen haben”. Nun ging ich brav an ihrer Seite nach Bichlbach.

 Sie kaufte eine Fahrkarte, das rauchende Züglein keuchte heran. Onkel Josef, der Fahrdienstleiter, winkte uns nach. Bald war er hinter schwarzen Rauchschwaden verschwunden. Allmählich wurde es klar, ein tiefblauer Himmel lachte auf die Wiesen mit den braunen Heustadeln. Da und dort stiegen graue Rauchsäulen auf und verschwanden ins Nichts. Es roch nach Erdäpfelkraut. Rechts lachte ein blauer Zipfel vom Heiterwanger See kurz herüber. Dann ging's am Tannellerkar vorbei, mit einem grellen Pfiff, hinein in den großen Bogen des Katzenbergtunnels. Ich drückte mich eng an die Mutter, doch dauerte es nicht lange, und er pfauchte wieder in die gleißende Helle hinaus. Unter uns lag, eingebettet in einem Kranz von Wäldern und Schroffen, der Markt Reutte.

 Wir gingen auf der Hauptstraße an schön bemalten Häusern vorbei, an bunten Schaufenstern, und Mutter mahnte dabei immer wieder zur Eile. Ich staunte über das große Haus am Rande des Ortes, fast schon inmitten weiter Wiesen, mit seinen grünen Fensterläden und dem breiten Söller. Daheim hatte ich öfters sagen hören, von der guten Partie, die Vaters Schwester gemacht hatte. Ich konnte mir nie etwas darunter vorstellen.

Als ich nun von der sechsjährigen Hilde und ihrer achtjährigen Schwester Mariele in deren Zimmer gezerrt wurde, war ich sprachlos. So viele Spielsachen hatte ich noch nie gesehen. Ich drehte pausenlos an einer Trommel mit bunten Glasscherben. Die herrlichsten Figuren wechseln einander ab. Die Puppen konnten Mama sagen, hatten echte Haare und bunte Seidenkleider. Die Mädchen waren des Spielens bald müde und liefen davon.

Da fand ich inmitten des kunterbunten Haufens den kleinen Taschenspiegel. Heiß brannte er in meiner Hand. Kein Auge konnte ich mehr von ihm lassen. Ich versuchte mir einzureden, dass die beiden Mädchen den doch nicht mehr brauchen. Ich nahm ihn mit!

Daheim versteckte ich ihn im hintersten Winkel der Tischlade. In der Schule begann der Kommunionunterricht, die erste hl. Beichte. Unrecht Gut muss man zurückgeben, aber ich redete mir auch ein, dass ich gar keine Gelegenheit dazu hätte. (Was man eben alles so denkt, um so eine Tat harmlos zu machen.)

Ich habe es nicht gebeichtet. So wurde der schönste Tag in meinem Kinderleben zum Alptraum. Das Spieglein hätte gut in mein weißes Handtäschchen gepasst, aber das konnte ich dem lieben Jesus sicher nicht antun, es in die Kirche mitzunehmen.

Ich musste neben der Schule auch viel bei den Hausarbeiten zulangen, sinnierte aber auch viel herum, was mir seitens der Mutter manchen Verweis einbrachte. Während ich wieder einmal so grübelte, stürmte Friedl in die Stube. "Heidi, die Wilhelmine ist wieder da". Das war die Krämerin, bei der wir einkauften. Jetzt war sie bei der Mutter in der Kammer und die beiden redeten miteinander. Ich hatte die Hintergründe der Besuche längst begriffen. Das ganze Jahr über wurde mit dem Büchl eingekauft. Im Herbst, nach dem Verkauf der Rinder, wurde bezahlt. Dieses Jahr hatte sich Mutter mit meinem Kommunionkleid übernommen. Mutter appellierte sicher gerade an das gute Herz der Krämerin, auch mit dieser Schuld zu warten. Mutter hatte rotgeweinte Augen. Aber, dass sie sich beim Abschied ganz freundlich die Hand gaben, ließ Gutes ahnen. "Heidi, heuer gehst nach der Schule über den Sommer zur Wilhelmine. Musst ihr im Laden und im Haus ein bissl zur Hand gehen. Für dein G'wand, weißt eh', dass es bei uns vorn und hinten nimmer langt." "Wer hilft dann euch daheim?" fragte ich. "Die Leopoldine und Tille müssen halt jetzt fester zupacken", entgegnete sie. Ja, und damit war auch schon ausgeredet. Ich weinte manchmal lautlos in meine Strohsackmulde.

Von der Schule brachte ich außer viel Fleißzetteln und Bildchen auch ein gutes Zeugnis mit nach Hause. Bei der Krämerin schuftete ich während der viermonatigen Ferien von früh bis spät. Säuberte Keller und Dachboden, brachte die Regale in den Vorratskammern in Ordnung und rührte kein Zuckerl an, wenn ich die Glasbehälter putzte. Die Schillinge, die ich nach Ladenschluss manchmal unter ihrem Verkaufspult hervorkehrte, legte ich auf ihren Schreibtisch. "Kannst immer bei mir bleiben", bot sie mir an. Dagegen wehrte ich mich aber entschieden.

Beschwingten Schrittes strebte ich durch die Talschlucht heimzu. Die letzten Sonnenstrahlen zauberten einen goldbraunen Schimmer über die Bleispitze, das Kreuz hob sich scharf gegen den zartrosa Abendhimmel ab. Da war mir so leicht und froh, als ob ein wundersamer Akkord eine Saite meiner Seele angerührt hätte.

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